Samstag, 30. Januar 2010

Jurek Becker: Jakob, der Lügner (Teil 1)

Jurek Becker: Jakob, der Lügner (Überlegungen zum Text)

Was macht das Buch so besonders?
Obwohl der Autor (gestorben 1997) selbst im Ghetto von Lodz aufwuchs und seine Mutter von den Nationalsozialisten ermordet wurde, gelingt es Jurek Becker, ohne pathetische Anklagen, aber mit viel Humor in seinem 1969 erschienenen ersten Roman "Jakob der Lügner" das Leben unter der nationalsozialistischen Willkür zu schildern.
"Jakob der Lügner" ist tragikomisch, aber Jurek Becker verharmlost nichts und verfällt auch keinem Euphemismus (also keiner Beschönigung). Gerade weil er weder spektakuläre Szenen noch großartige Helden vorführt, sondern mit einfühlsamer Liebe zum Detail und vielen originellen Einfällen vom Alltagsleben der kleinen Leute in einem Ghetto erzählt, bleibt der Leser betroffen zurück.

Die Erzählstruktur und der Erzähler:
Außergewöhnlich wie der Inhalt des Romans ist auch die Erzählstruktur. Jurek Becker führt gleich zu Beginn einen 46 Jahre alten Erzähler ein, der als einziger Ghettobewohner überlebte und die Geschichte 1967 aufschreibt. Meistens tritt der Erzähler hinter den Protagonisten Jakob Heym zurück, und der Leser erlebt das Geschehen unmittelbar wie bei einem in der dritten Person geschriebenen Roman.
Doch an mehreren Stellen meldet sich der Erzähler zurück, etwa mit einem Kommentar oder einem Hinweis auf seine Quellen. Dieser Wechsel der Perspektive könnte die (fiktive) Geschichte authentisch wirken lassen, aber das wird auch gleich wieder durchkreuzt, weil der Erzähler zugibt, einiges erfunden zu haben.
Der Erzähler steht "über" Jakob und dessen Geschichte: Er hat auch eine eigene Geschichte: Der Baum.
Der Erzähler steht zwischen dem Leser und der Handlung: Er behält sich das Recht vor, so zu erzählen, wie er will, nicht wie der Leser es wünschen oder die Handlung es erfordern könnte.
Der Erzähler ist Teil der von ihm erzählten Geschichte: Er greift in diese ein, z.B. im Waggon. ist auch seine eigene Erfindung: Er spekuliert über seine eigene Verhaltensweisen, z.B. als Mitverschwörer gegen Jakob.
Der Erzähler ordnet die Handlung als auktorialer Erzähler und ergänzt offene Stellen nach seinem Dafür-Halten. ("Dann ist Frankfurter mit seiner Frau alleine, ohne Zeugen. Ich weiß bloß, wie es ausgegangen ist, ich kenne nur das Resultat, nichts dazwischen, aber ich kann es mir nur so oder ähnlich vorstellen.", Seite 55).

Das Ghetto (Lodz und Warschau):
Reinhard Heydrich, der "Chef der Sicherheitspolizei und des SD", ordnete am 21. September 1939 an, die polnischen Juden in Ghettos umzusiedeln. Diese Entscheidung sei keinesfalls endgültig, betonte der für Lodz zuständige nationalsozialistische Regierungspräsident:
"Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln das Ghetto und damit die Stadt Lodz von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muss jedenfalls sein, dass wir diese Pestbeule restlos ausbrennen." (Friedrich Übelhör am 10. Dezember 1939; zit. nach Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker)
Lodz - zu Ehren eines Nazigenerals umbenannt in Litzmannstadt - sollte als Teil des neugegründeten Reichsgaus "Wartheland" so schnell wie möglich "judenfrei" werden. Dieses Ziel war im August 1944 erreicht. Mit den letzten Deportationen nach nach Chelmno und Ausschwitz wurde das Gehtto aufgelöst.
In Warschau wurden die Juden ab November 1940 wegen angeblicher Seuchengefahr hinter einer 18 Kilometer langen und 3 Meter hohen Mauer zusammengepfercht. Bis zu 445 000 Juden lebten im Warschauer Ghetto. Innerhalb eines Jahres starben 50 000 von ihnen an Hunger und Krankheiten.
Aufgrund eines Befehls des "Reichsführers-SS", Heinrich Himmler, begannen die Deutschen am 22. Juli 1942 mit der Räumung des Ghettos in Warschau. Bis zu 13 596 Juden am Tag wurden in Viehwaggons getrieben und deportiert, unter anderem in das Vernichtungslager Treblinka 100 Kilometer nordöstlich von Warschau. Im Oktober lebten nur noch 60 000 Menschen in dem Ghetto, das die SS zu diesem Zeitpunkt in ein Konzentrationslager umwandelte.
Am 19. April 1943 erhoben sich die Juden im Ghetto gegen die SS. Mehrere Wochen benötigten die von SS-General Jürgen Stroop (1895 - 1952) befehligten Deutschen, bis sie den Aufstand restlos niedergeschlagen hatten. Die Überlebenden brachte man in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager.

Jakob - ein Held?
"... ich will erzählen, daß er ein Held war. Keine drei Sätze sind ihm über die Lippen gekommen, ohne daß von seiner Angst die Rede war, aber ich will von seinem Mut erzählen." (S. 44)
Der Schülerduden:
"Held, ursprünglich ein Mann, vornehmlich ein Krieger, der sich durch hervorragende Tapferkeit und besonders ruhmreiche Taten auszeichnete. In dieser Bedeutung erscheinen u.a. die Hauptpersonen in der Heldensage. Als Held wird darüberhinaus auch eine Person betitelt, die im MIttelpunkt eines Geschehens steht oder durch vorbildliches Verhalten Bewunderung und Anerkennung hervorruft. (...) Im bürgerlichen Roman bzw. Drama tritt dagegen mehr der passive Held in Erscheinung, der durch seelische Labilität und Willensschwäche gekennzeichnet ist (negativer Held) und eher als Opfer denn als Handelnder in Erscheinung tritt."
Friedrich Nietzsche:
"Was 'den Helden' betrifft: so denke ich nicht so gut von ihm wie Sie. Immerhin: er ist die annehmbarste Form des menschlichen Daseins, namentlich, wenn man keine andere Wahl hat. Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne "unser höheres Selbst" nennen möchten): "Gerade das gib mir zum Opfer." Und wir geben's auch - aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntwerden mit langsamem Feuer."
In Bertolt Brechts "Leben des Galilei" (Bild 13) ergibt sich folgende Situation:
Galilei wird von der Heiligen Inquisition zum Widerruf seiner Lehre gezwungen. Er gibt nach, während seine Schüler von ihm erwarten, dass er widersteht. Nach der öffentliche Verkündigung seines Widerrufes kehrt Galilei zu seinen Schülern zurück und folgender Wortwechsel ergibt sich zwischen Schüler und Lehrer: Andrea: "Unglücklich das Land, das keine Helden hat." Galilei: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat."

Leitworte, Motive und Symbole:
Unter "Leitwort" werden bedeutsame Wörter verstanden, die sich innerhalb eines Textverlaufs an wichtigen Stellen wiederholen und dem Leser dadurch den Sinn des Textes oder seiner Teile eindringlicher verdeutlichen.
Leitworte können zu "Motiven" erweitert werden. Unter einem "Motiv" wird eine sich wiederholende, typische und menschlich bedeutungsvolle Situation bzw. ein entsprechender Vorgang, Zustand oder auch ein bedeutendes Verhalten verstanden. Ist dieses Motiv von besonderer Bedeutung für das Geschehen, spricht man von einem "Leitmotiv".
Im literarischen Werk tritt das Leitmotiv in Form von Sprachbildern, Wortfolgen und Gegenständen zur Kennzeichnung von Figuren und Situationen wiederholt auf. Durch die Situation, in der es zuerst auftritt, erhält es eine bestimmte Bedeutung. Überall, wo es wieder erscheint, ruft es die gleichen Assoziationen hervor. Die Deutung des Leitmotivs hilft dem Leser, Thema und Idee des Werkes tiefer zu erschließen.
Unter einem Symbol wird ein sinnlich gegebener Gegenstand, Vorgang, oder eine Situation verstanden, die über sich selbst hinaus auf einen höheren, abstrakten, ideellen Bereich verweisen. Symbole erlangen erst in einem bestimmten Kontext und Sinnzusammenhang ihre Bedeutung, die nicht immer eindeutig sein kann, weil sie abhängig ist vom Erfahrungs- und Wissenshorizont des Lesers.

Jakob und seine Lügen:
Fünf Hauptkategorien von Lügen, nach Charles Ford, Psychiatrie-Professor an der Universitätsklinik in Birmingham, Alabama:
1. "manipulierende Lügen" - kühl berechnete Gaunereien, charakteristisch etwa für betrügerische Verkäufer, Heiratsschwindler oder Karrieresüchtige, denen jedes Mittel recht ist.
2. "melodramatische Lügen", womit liebebedürftige Menschen sich Zuwendung und Anteilnahme verschaffen wollen. Aufgeregte Übertreibungen jeder Art, hysterische Leidensgeschichten, heuchlerische Skandalauftritte sind hier die auffälligeren Formen.
3. "grandiose Lügen": Sie setzen den Aufschneider als beherzten Helden oder allwissenden Experten ins Szene.
4. "ausweichende Lügen": Sie sind typisch für Menschen, die innere Konfusion und von ihnen angerichteten Verdruss möglichst verheimlichen oder, wenn das nicht geht, billige Ausflüchte zur Ablenkung und Rechtfertigng erfinden.
5. "skrupelhafte Lüge" empfindet der Unwahrhaftige selber als höchst peinvoll und ist sich seiner Schuld bewusst. Sonst überaus korrekte Menschen, die von sich selbst Makellosigkeit erwarten, schämen sich selbst harmloser Gedanken, Worte und Werke, die ihnen als unvereinbar mit ihrem Vollkommenheitsideal erscheinen.
Jakobs Lügen gegenüber den Ghetto-Bewohnern und Freunden: Mischa, Kowalski, Schmid, Rosa ...
· Jakobs Radio-Imitation für Lina im Keller (S.162 ff)
· Jakobs Märchen für Lina (S.170>
· Die Täuschung der kranken Prinzessin durch den Gärtnerjungen (S. 172)
· Professor Kirschbaums Tabletten "gegen Sodbrennen" (S.205)
· Der Besuch des Erzählers bei Preuß (S.209)
· Kowalskis "Abschied" (S.253)
· Der Soldat, der Jakob ins Revier schickt (S.10/11)
· Der Soldat, der zwei Zigaretten fallen läst (S.110/11)

Das Ende:
"Ich stelle mir einen Moment lang vor ..." (S.259 ff)
Jakob erklärt sein Radio für gestohlen (ein vom Erzähler nur angedachtes Ende).
Jakob stellt den Verkehr mit den Ghetto-Bewohnern ein, verweigert jegliche weitere Auskunft und stirbt auf der Flucht (ein vom Erzähler zu Ende gedachter Schluss).
Jakob wird mit allen anderen Ghetto-Bewohnern ins Konzentrationslager deportiert und kommt dort um (das vom Erzähler als wirklich betrachtete Ende).

1 Kommentar:

  1. Was für eine Bedeutung hatte denn das Judentum für Jurek Becker selbst?

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